Rubrik Zeitzeuge:

Herr Prof. Esat Suher schreibt über die Anfänger der Mekteb -i Sanayi-i Nefise-i Şâhâne Istanbul,
die erste Kunstschule (1882) des Osmanischen Reiches bis hin zur Entwicklung der heutigen Universiätsform der Mimar Sinan Fine Arts University Istanbul.

Eine Zusammenfassung des Beitrags auf deutsch finden Sie im Anschluss. Die originale türkische Version finden Sie als PDF-Datei.

Die Entwicklung der heutigen Universiätsform der Mimar Sinan Fine Arts University Istanbul

Eine Zusammenfassung des Beitrags auf deutsch finden Sie im Anschluss.

Akademie der schönen Künste – Architekturlehre als Modernisierungsprojekt*

Esat Suher & Nezih R. Aysel @ MSGSÜ

*Akademie der schönen Künste, heute: Mimar Sinan Fine Arts Universität (Mimar Sinan Güzel Sanatlar Üniversitesi (MSGSÜ), Istanbul)

 

Mekteb-i Sanayi-i Nefise-i Şâhâne war eine königliche Kunstakademie, die 1882 unter der Leitung von Osman Hamdi Bey im Rahmen der osmanischen Modernisierung gegründet wurde. Sie bot eine Ausbildung in den Bereichen Malerei, Skulptur und Architektur im westlichen Sinne und begann als erste und führende Kunstschule der Türkei ihre Tätigkeit mit 28 akademischen Mitarbeitern und 21 Studenten. Die Aktivitäten waren nicht nur auf den Ausbildungsbereich beschränkt, denn die Akademie war auch in der Lage, ein Umfeld zu schaffen, in dem sich Kunst und Architektur auch in Hinblick auf die Zukunft des Landes entwickeln sollten. Angeknüpft wurde sowohl an das Erbe und die Kreativität der osmanischen Kunst vieler Jahrhunderte, als auch an die neuen Denkansätze, durch die sich die Innovationen des Westens ausdrückten. Das Osmanische Reich hat mit dieser kleinen, aber wichtigen Schule, die angesehenen zeitgenössischen Künstler auf dem Gebiet der Malerei, Skulptur und Architektur unterstützt, indem es ihnen Gelegenheit zur Begegnung bot.

In der Architekturabteilung der Sanayi-i Nefise Mekteb lehrten bekannte zeitgenössische Architekten wie Alexandre Vallaury, Giulio Mongeri, Kemalettin Bey und Vedat Bey. Die Abteilung wurde nach dem Vorbild der École Nationale Supérieure des Beaux-Arts in Paris gegründet. Die Ausbildung basierte auf einer persönlichen Beziehung zwischen Meister und Lehrling. Die hohe Anzahl der Werkstatt-Lehrer, der vertretenen Stile und die hohe Zahl an Schülern beweist die Qualität der Ausbildung in dieser Einrichtung. Mit der Zunahme der Studentenzahlen am Ende der osmanischen Zeit zu Beginn der 1920er Jahre, wurde auch das Angebot an Werkstätten erhöht. Die Architekturausbildung dauerte in der Gründungszeit vier Jahre. In den Werkstätten wurde im ersten Jahr technisches Zeichnen, im zweiten die Grundlagen und Elemente der Architektur unterrichtet; indem sie Bilder von architektonischen Elementen unterschiedlicher Stile anfertigten, sollten die Schüler die verschiedenen Epochen näher kennenlernen.

Philipp Ginther mit Studenten während eines Workshops

Die Bildungsreform der republikanischen Ära im Bereich Kunst und Architektur unterstützte zweifellos die Weiterentwicklung und Umstrukturierung der Sanayi-i Nefise Mektebi zu einer der wichtigsten Bildungseinrichtungen der Türkei**. 1926 wurde auf Atatürks Initiative, durch Beschluss des türkischen Parlaments und des Bildungsministeriums, der Fındıklı Cemile Sultan Palast  der Akademie zur Nutzung zugeteilt. Dadurch wurde es in eine Bildungsstätte mit historischen Spuren einer ganzen Epoche umgewandelt. Mit der Ansiedlung der Akademie im Findikli Palast beginnt eine wichtige Entwicklungsphase. Während dieser Zeit erreicht die Sanayi-i Nefise Mektebi durch die Anwesenheit ausländischer Dozenten im Rahmen der Universitätsreform das Niveau westlicher Akademien und erlebt ihre produktivste Zeit mit Innovationen in der Ausbildung und durch Schaffung neuer Abteilungen.
 

Architektur und Kunst sind wichtige erzieherische Instrumente der neuen türkischen Republik, um gesellschaftliche Integrität und Identität an die jüngeren Generationen zu vermitteln. Es wurde stets betont, wie wichtig es sei, Architekten und Künstler auszubilden, die die moderne Architektursprache und -technik beim Umbau von Ankara zur Hauptstadt der Türkei umsetzen und verwirklichen konnten. Clemens Holzmeister machte den Vorschlag, den Schweitzer Architekten Ernst Egli zur baulichen Gestaltung wichtiger Bildungseinrichtungen in die Türkei einzuladen. Egli realisierte das Entwicklungskonzept in den ersten drei Jahren seines Aufenthalts in Ankara und unterstützte so die junge Republik bei ihrer Konsolidierung, 1930 begann er mit der Umstrukturierung der Architektenausbildung an der Akademie.

Egli hat ein Curriculum eingeführt, das die Standards der technischen Hochschulen Mitteleuropas mit den konkreten Ausbildungsbedingungen des Landes sowie den positiven Erfahrungen mit der Unterrichtsgestaltung an der Akademie verband. Die wichtigsten Neuerungen lassen sich mit drei Überschriften zusammenfassen: Aufnahmeprüfung, Verlängerung der Ausbildungszeit auf fünf Jahre und Aktualisierung des Lehrplans. In vielen Ausgaben des türkischen Journals Arkitekt aus den 1930er Jahren sind Texte über die Bildungsreform, ihre Ergebnisse sowie Berichte von Studentenprojekten enthalten. Sie sind in gewissem Sinne ein Dokument der Architektur der Republik in jener Zeit. 

In diesem Erneuerungsprozess, der mit Ernst Egli in der Abteilung für Architektur an der Akademie der bildenden Künste begann, haben sich weitere bekannte Akademiker und Fachleute wie Bruno Taut, Martin Wagner, Robert Vorholzer, Gustave Oelsner, Grete Schütte Lihotzky, Ernst Diez mit eigenen Beiträgen zur Architektur und Kultur des Landes auf den Weg gemacht. Dadurch konnten türkische Kunst und Architektur das heutige Niveau erreichen. Nachweislich haben nach der Reform ausländische Lehrer bis 1958 an der Ausbildung in der Akademie teilgenommen. 


Bruno Taut während eines Treffens in einem Café in Edirne Türkei


Egli, Holtay undVorholzer



MSGSÜ  Mitglieder der Wissenschaftlichen Fakultät

Im Jahr 1982 wurde die Akademie zu einer Universität umgewandelt. In diesem Prozess wurde die heutige Struktur durch Hinzufügen der Fakultät für Künste und Wissenschaften, sowie durch Änderungen und Ergänzungen einiger Akademie-Einheiten geschaffen. Professor Esat Suher, Gründungsdekan der Fakultät für Architektur in dieser schwierigen Übergangsphase, hatte sich verpflichtet, durch radikalen Wandel eine neue Fakultätsstruktur zu entwickeln, die neben der Abteilung für Architekten auch eine Ausbildung in den Bereichen Städtebau, Innenarchitektur und industrielles Produktdesign bieten sollte.

Größte Auswirkung auf die Struktur der Architektenausbildung hatte das Bestreben, die Einrichtung, die über Erfahrungen aus über hundert Jahren verfügte, mit neu eingerichteten Bildungseinrichtungen in Einklang zu bringen. Infolgedessen wurde der mit der Egli-Reform von 1930 eingeführte Eignungstest wieder gestrichen, und die Ausbildung von fünf auf vier Jahre gekürzt. Die Akademie, die mit der Reform von 1930 in eine Phase des Aufstiegs eingetreten war, Autonomie durch das Akademierecht erlangt hatte und Bildungsgüter bewahren konnte, muss sich fortan mit vielen studentischen Problemen auseinandersetzen, die mit dem neuen Prüfungssystem verbunden sind. Trotz aller durch diese Bedingungen verursachten Schwierigkeiten, wird die Architekturausbildung bis heute fortgesetzt, wobei die durch die Reform eingeführte Struktur, die eine Variante der Beaux-Arts-Ausbildung darstellt, teilweise erhalten werden konnte. Durch die Bewahrung dieser ursprünglichen Struktur, durch den praktischen Unterricht und die Werkstattkultur hat sie eine besondere Position unter den Architekturschulen. Daher wird die Erziehung künftiger Generationen von Architekten auch heute mit großem gegenseitigem Engagement fortgesetzt. Die Architekturabteilung der MSGSÜ* hat sich zum Prinzip gemacht, die Bildungskultur aus seiner tief verwurzelten und wertvollen Vergangenheit heraus zu erhalten, indem es die feine Balance zwischen Tradition und Moderne zur jede Zeit versucht, zu berücksichtigen.

**Am 1. Nov. 1923 wurde das Sultanat des Osmanischen Reiches abgeschafft. Am 29. Okt. 1923 wurde die Türkische Republik unter Mustafa Kemel Atatürk gegründet.

1935-36 Lehrer und Schüler der Günzel Sanatlar Akademisi, heute Mimar Sinan Fine Arts Universität Istanbul